Forscher züchten über 400 Arten von Gehirnzellen – ein Sprung für die Alzheimer- und Parkinson-Forschung

Forscher züchten über 400 Arten von Gehirnzellen – ein Durchbruch für die Alzheimer- und Parkinson-Forschung

Wissenschaftler der ETH Zürich haben Neuland betreten, indem sie im Labor über 400 Arten von Nervenzellen aus Stammzellen gezüchtet haben. Damit übertreffen sie bisherige Versuche, bei denen nur einige Dutzend Zellen hergestellt werden konnten. Durch systematische Experimente mit Kombinationen aus Morphogenen und Genregulatoren gelang es den Forschern, die enorme Vielfalt der Neuronen im menschlichen Gehirn nachzubilden. Dieser Durchbruch ist vielversprechend für die Erforschung neurologischer Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson, die Entwicklung genauerer Modelle für Arzneimitteltests und letztendlich sogar für Neuronenersatztherapien.

Vielfalt an verschiedenen Nervenzelltypen

Nervenzellen sind nicht einfach nur Nervenzellen. Je nachdem, wie fein wir unterscheiden, gibt es nach neuesten Berechnungen mehrere hundert bis mehrere tausend verschiedene Arten von Nervenzellen im menschlichen Gehirn. Diese Zelltypen unterscheiden sich in ihrer Funktion, in der Anzahl und Länge ihrer Zellfortsätze und in ihren Verbindungen untereinander. Sie schütten unterschiedliche Botenstoffe in unsere Synapsen aus, und je nach Region des Gehirns – beispielsweise in der Großhirnrinde oder im Mittelhirn – sind unterschiedliche Zelltypen aktiv.

Als Wissenschaftler in der Vergangenheit für ihre Experimente Nervenzellen aus Stammzellen in Petrischalen herstellten, war es nicht möglich, ihre enorme Vielfalt zu berücksichtigen. Bislang hatten Forscher nur Verfahren entwickelt, um einige Dutzend verschiedene Nervenzelltypen in vitro zu züchten. Dies gelang ihnen mithilfe von Gentechnik oder durch Zugabe von Signalmolekülen, um bestimmte zelluläre Signalwege zu aktivieren. Sie kamen jedoch nie annähernd an die Vielfalt von Hunderten oder Tausenden verschiedener Nervenzelltypen heran, die tatsächlich existiert.

Systematisches Screening als Schlüssel zum Erfolg

„Aus Stammzellen gewonnene Neuronen werden häufig zur Erforschung von Krankheiten eingesetzt. Bislang haben Forscher jedoch oft ignoriert, mit welchen genauen Neuronentypen sie arbeiten“, sagt Barbara Treutlein, Professorin am Departement für Biosystemwissenschaften und -technik der ETH Zürich in Basel. Dies sei jedoch nicht der beste Ansatz für solche Arbeiten. „Wenn wir Zellkulturmodelle für Krankheiten und Störungen wie Alzheimer, Parkinson und Depressionen entwickeln wollen, müssen wir den spezifischen Typ der betroffenen Nervenzellen berücksichtigen.“

Treutlein und ihr Team haben nun über 400 verschiedene Arten von Nervenzellen erfolgreich hergestellt. Damit haben die Wissenschaftler den Weg für eine präzisere neurologische Grundlagenforschung mit Zellkulturversuchen geebnet. Die ETH-Forschenden erreichten dies, indem sie mit einer Kultur aus menschlichen induzierten pluripotenten Stammzellen arbeiteten, die aus Blutzellen gewonnen worden waren. In diesen Zellen aktivierten sie mithilfe von Gentechnik bestimmte neuronale Regulatorgene und behandelten die Zellen mit verschiedenen Morphogenen, einer speziellen Klasse von Signalmolekülen. Treutlein und ihr Team gingen dabei systematisch vor und verwendeten in ihren Screening-Experimenten sieben Morphogene in verschiedenen Kombinationen und Konzentrationen. So entstanden fast 200 verschiedene Versuchsbedingungen.

Morphogene sind Botenstoffe, die aus der Embryonalforschung bekannt sind. Sie sind nicht gleichmäßig im Embryo verteilt, sondern kommen in unterschiedlichen Konzentrationen vor und bilden räumliche Muster. Auf diese Weise legen sie die Position der Zellen im Embryo fest, beispielsweise ob eine Zelle in der Nähe der Körperachse oder im Rücken, Bauch, Kopf oder Rumpf liegt. Morphogene bestimmen also mit, was wo im Embryo wächst. Mit verschiedenen Analysen konnten die Forscher nachweisen, dass sie in ihrem Experiment über 400 verschiedene Arten von Nervenzellen erzeugt hatten. Sie untersuchten die RNA (und damit die genetische Aktivität) auf der Ebene einzelner Zellen sowie das äußere Erscheinungsbild der Zellen und ihre Funktion: zum Beispiel, welche Art von Zellfortsätzen sie in welchen Mengen hatten und welche elektrischen Nervenimpulse sie aussendeten.

Anschließend verglichen die Forscher ihre Daten mit Informationen aus Datenbanken über Neuronen des menschlichen Gehirns. Auf diese Weise konnten sie die Arten der erzeugten Nervenzellen identifizieren, beispielsweise solche, die im peripheren Nervensystem oder in Gehirnzellen vorkommen, sowie den Teil des Gehirns, aus dem sie stammen, und ob sie Schmerz, Kälte oder Bewegung wahrnehmen und so weiter.

Erforschung schwerer neurologischer Erkrankungen

Treutlein stellt klar, dass es noch ein langer Weg ist, bis alle Arten von Nervenzellen, die es gibt, in vitro hergestellt werden können. Dennoch haben die Forscher nun Zugang zu einer viel größeren Anzahl verschiedener Zelltypen als zuvor. Sie möchten die In-vitro-Nervenzellen nutzen, um Zellkulturmodelle für die Erforschung schwerer neurologischer Erkrankungen wie Schizophrenie, Alzheimer, Parkinson, Epilepsie, Schlafstörungen und Multiple Sklerose zu entwickeln. Solche Zellkulturmodelle sind auch für die pharmazeutische Forschung von großem Interesse, um die Wirkung neuer Wirkstoffe in Zellkulturen ohne Tierversuche zu testen, mit dem Ziel, diese Erkrankungen eines Tages heilen zu können.

In Zukunft könnten die Zellen auch für die Zellersatztherapie verwendet werden, bei der kranke oder abgestorbene Nervenzellen im Gehirn durch neue menschliche Zellen ersetzt werden. Bevor dies jedoch möglich ist, muss noch eine Herausforderung bewältigt werden: In ihren Experimenten produzierten die Forscher oft eine Mischung aus mehreren verschiedenen Nervenzelltypen. Sie arbeiten nun daran, ihre Methode so zu optimieren, dass unter den jeweiligen Versuchsbedingungen nur ein bestimmter Zelltyp entsteht. Erste Ideen, wie dies erreicht werden könnte, haben sie bereits.

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