Wissenschaftler der Northwestern University haben einen neuen Ansatz entwickelt, der das Fortschreiten neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer und amyotropher Lateralsklerose (ALS) direkt bekämpft. Bei diesen verheerenden Krankheiten falten sich Proteine falsch und verklumpen sich um Gehirnzellen, was letztendlich zum Zelltod führt. Die innovative neue Behandlung fängt die Proteine effektiv ein, bevor sie sich zu toxischen Strukturen zusammenlagern können, die in die Nervenzellen eindringen. Die eingefangenen Proteine werden dann im Körper harmlos abgebaut. Die „Reinigungsstrategie“ verbesserte die Überlebensrate von im Labor gezüchteten menschlichen Neuronen unter dem Stress durch krankheitsverursachende Proteine erheblich. Die Studie wurde als „ACS Editor’s Choice“ ausgewählt und im Journal of the American Chemical Society veröffentlicht.
Möglichkeit, um das Fortschreiten von Alzheimer zu verzögern
„Unsere Studie unterstreicht das spannende Potenzial molekular konstruierter Nanomaterialien für die Bekämpfung der Ursachen neurodegenerativer Erkrankungen“, so Samuel I. Stupp von der Northwestern University, leitender Autor der Studie. „Bei vielen dieser Erkrankungen verlieren Proteine ihre funktionsfähige Faltungsstruktur und aggregieren zu destruktiven Fasern, die in die Neuronen eindringen und dort hochtoxisch wirken. Durch das Einfangen der fehlgefalteten Proteine hemmt unsere Behandlung die Bildung dieser Fasern in einem frühen Stadium. Es wird angenommen, dass kurze Amyloidfasern im Frühstadium, die in die Neuronen eindringen, die giftigsten Strukturen sind. Wir glauben, dass dies mit weiterer Forschung das Fortschreiten der Krankheit erheblich verzögern könnte.“
Stupp ist ein Pionier der regenerativen Medizin und Professor für Materialwissenschaften und Ingenieurwesen, Chemie, Medizin und Biomedizintechnik an der Northwestern University, wo er an der McCormick School of Engineering, dem Weinberg College of Arts and Sciences und der Feinberg School of Medicine tätig ist. Er ist außerdem Gründungsdirektor des Center for Regenerative Nanomedicine (CRN). Zijun Gao, Doktorand in Stupps Labor, ist der Erstautor der Veröffentlichung. Die Stupp-Gruppe leitete die Entwicklung und Charakterisierung der neuen therapeutischen Materialien. Die Co-Autorin Zaida Alvarez – Forscherin am Institut für Bioingenieurwesen von Katalonien (IBEC) in Spanien, ehemalige Postdoktorandin in Stupps Labor und derzeit Gastwissenschaftlerin am CRN – leitete die Tests der Therapien an menschlichen Neuronen.
Eine zuckerbeschichtete Lösung
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation leiden weltweit bis zu 50 Millionen Menschen an einer neurodegenerativen Erkrankung. Die meisten dieser Erkrankungen sind durch die Ansammlung fehlgefalteter Proteine im Gehirn gekennzeichnet, die zu einem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen führen. Die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten bieten nur begrenzte Linderung, sodass ein dringender Bedarf an neuen Therapien besteht. Um diese Herausforderung zu bewältigen, wandten sich die Forscher einer Klasse von peptidischen Amphiphilen zu, die vom Stupp-Labor entwickelt wurden und modifizierte Aminosäureketten enthalten. Peptidische Amphiphile werden bereits in bekannten Arzneimitteln wie Semaglutid oder Ozempic verwendet. Tatsächlich entwickelten die Forscher der Northwestern University bereits 2012 ein ähnliches Molekül, das die Insulinproduktion steigerte.
Im Laufe der Jahre hat Stupps Forschungsgruppe viele peptidbasierte Materialien für verschiedene therapeutische Zwecke entwickelt. Um ein amphiphiles Peptid zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen zu entwickeln, fügte sein Team einen zusätzlichen Inhaltsstoff hinzu: einen natürlichen Zucker namens Trehalose. „Trehalose kommt natürlich in Pflanzen, Pilzen und Insekten vor“, so Gao. Sie schützt sie vor Temperaturschwankungen, insbesondere vor Austrocknung und Erfrierungen. Andere Forscher haben entdeckt, dass Trehalose viele biologische Makromoleküle, darunter auch Proteine, schützen kann. Deshalb wollten die Experten herausfinden, ob sie diese zur Stabilisierung fehlgefalteter Proteine einsetzen können.
Neuartiger Mechanismus hilft, neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer in einem früheren Stadium entgegenzuwirken
Bei Zugabe zu Wasser bildeten die amphiphilen Peptide selbstständig Nanofasern, die mit Trehalose überzogen waren. Überraschenderweise destabilisierte die Trehalose die Nanofasern. Obwohl dies kontraintuitiv erscheint, hatte diese verminderte Stabilität einen positiven Effekt. Für sich genommen sind die Nanofasern stark und gut geordnet – und widerstandsfähig gegen strukturelle Umordnungen. Das erschwert es anderen Molekülen, wie fehlgefalteten Proteinen, sich in die Fasern zu integrieren. Weniger stabile Fasern hingegen wurden dynamischer – und fanden leichter toxische Proteine, mit denen sie interagieren konnten. Auf der Suche nach Stabilität verbanden sich die Nanofasern mit Amyloid-beta-Proteinen, einem wichtigen Auslöser der Alzheimer-Krankheit. Aber die Nanofasern verhinderten nicht nur, dass sich die Amyloid-beta-Proteine zusammenklumpen. Die Nanofasern bauten die Proteine vollständig in ihre eigenen Faserstrukturen ein und schlossen sie so dauerhaft in stabilen Filamenten ein.
„Dann handelt es sich nicht mehr um eine amphiphile Peptidfaser, sondern um eine neue Hybridstruktur, die sowohl das amphiphile Peptid als auch das Amyloid-beta-Protein enthält “, so Strupp. „Das bedeutet, dass die schädlichen Amyloid-beta-Proteine, die Amyloidfasern gebildet hätten, eingeschlossen sind. Sie können nicht mehr in die Neuronen eindringen und diese abtöten. Es ist wie eine Reinigungstruppe für fehlgefaltete Proteine. Dies ist ein neuartiger Mechanismus, um neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer in einem früheren Stadium entgegenzuwirken. Derzeitige Therapien basieren auf der Produktion von Antikörpern gegen gut ausgebildete Amyloidfasern.“
Entwicklung innovativer und wirksamer Therapien
Um das therapeutische Potenzial des neuen Ansatzes zu bewerten, führten die Wissenschaftler Labortests mit menschlichen Neuronen durch, die aus Stammzellen gewonnen wurden. Die Ergebnisse zeigten, dass die mit Trehalose beschichteten Nanofasern das Überleben sowohl der motorischen als auch der kortikalen Neuronen deutlich verbesserten, wenn sie dem toxischen Amyloid-beta-Protein ausgesetzt waren.
Stupp sagt, dass der neuartige Ansatz, instabile Nanofasern zum Einfangen von Proteinen zu verwenden, einen vielversprechenden Weg für die Entwicklung neuer und wirksamer Therapien für Alzheimer, ALS und andere neurodegenerative Erkrankungen darstellt. Ähnlich wie bei Krebsbehandlungen, bei denen mehrere Therapien kombiniert werden – wie Chemotherapie und Operation oder Hormontherapie und Bestrahlung –, könnte die Nanotherapie laut Stupp am wirksamsten sein, wenn sie mit anderen Behandlungen kombiniert wird. Dann könnte sie eine doppelte Wirkung erzielen